1. Bahnlärm-Public
  2. Netzwerk
  3. Donnerstag, 05. Januar 2017
Das BVerwG hat das Urteil vom 8. September 2016 - 3 A 5.15 - in
Sachen eisenbahnrechtlichen Planfeststellungsbeschluss des EBA vom
31. März 2014 für den zweigleisigen Ausbau und die Elektrifizierung
der Eisenbahnstrecke Niesky bis Knappenrode (Oberlausitz)
veröffentlicht:

http://www.bverwg.de/entscheidungen/entscheidung.php?ent=080916U3A5.15.0
(und beiliegend mit farblichen Anmerkungen)

Die derzeit eingleisige Strecke (max. 100 kmh) soll zweigleisig
ausgebaut und elektrifiziert werden, damit im Jahr 2025 täglich 20
Personennahverkehrszüge mit bis zu 160 km/h und 153 Güterzüge mit bis
zu 120 km/h verkehren können. Die (privaten) Kläger haben trassennahe
Grundstücke, darunter eine Kirchengemeinde.
Im PFB sind zum Schutz vor Schienenverkehrslärm für die neun
betroffenen Ortschaften im Einzelnen bezeichnete Schallschutzwände
mit einer Höhe von 1,5 bis 5,0 m über SOK vorgesehen, 151 Gebäude
wird dem Grunde nach ein Anspruch auf passiven Schallschutz
festgestellt und Entschädigungen dem Grunde nach gemäß den
Vorschlägen des Gutachters. Weitere Regelungen bestehen hinsichtlich
des Baulärms. Während des Klageverfahrens hat das EBA auf Anträge der
Beigeladenen mit neun Änderungsplanfeststellungsbeschlüssen vom 1.
Juni 2016 für alle Kläger die Schutzmaßnahmen während der Bauphase
konkretisiert. Anträge der Kläger auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes waren ohne Erfolg geblieben (BVerwG, B. v. 19.12.2014
- 7 VR 5.14).

Aus dem Urteil:

1. Übernahmeanspruch bei hoher Lärmbelastung

Der Kläger 1 hat einen Anspruch auf Übernahme seines Grundstücks
gegen Entschädigung, denn das sehr trassennah gelegene Grundstück
wird im Prognosefall Eisenbahnbetriebslärm ausgesetzt, dessen Ausmaß
mit der staatlichen Schutzpflicht für Leben, Gesundheit und Eigentum
nicht mehr vereinbar ist. Mit prognostizierten Beurteilungspegeln von
73 dB(A) tags und 70 dB(A) nachts werden nicht nur die für Wohnhäuser
im Außenbereich, in dem das Grundstück liegt, einschlägigen
Immissionsgrenzwerte erheblich überschritten (64/54 dB(A)
tags/nachts), sondern sogar die für Dorf- und Mischgebiete geltenden
verfassungsrechtlichen Annäherungswerte für die so genannte
enteignungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle von 72/62 dB(A)
tags/nachts.
Das Grundstück wird daher vorhabenbedingten Beeinträchtigungen
ausgesetzt, die mithilfe von Vorkehrungen im Sinne des § 74 Abs. 2
Satz 2 VwVfG nicht in einer Weise ausgeglichen werden können, dass
eine weitere Wohnnutzung zumutbar wäre.

Ein aktiver Lärmschutz käme nicht in Betracht, weil dessen Kosten den
Verkehrswert des Wohnhauses um ein Mehrfaches übersteigen; selbst
wenn nur die Schutzfälle zur Tagzeit gelöst würden, müßte für die
LSWand immer noch das zweifache des Verkehrswerts aufgewandt werden
(Rn. 37).

Auch ein passiver Lärmschutz könnte die Belastungen nicht
ausgleichen, weil "die Geräuschbelastung vor allem durch hohe
Maximalschallpegel ("Spitzenpegel";) der einzelnen Zugvorbeifahrten
geprägt" sei; die Außenwohnbereiche seien bei Maximalpegeln
zwischen 85 und 100 dB(A) "praktisch unbenutzbar" und selbst bei
Schallschutzfenstern mit der höchsten Schallschutzklasse ließen sich
Überschreitungen der Nachtwerte durch hohe Spitzenpegel nicht
ausschließen (Rn. 38-40).

Eine Vorbelastung kann dem Kläger zu 1 schon deshalb nicht
entgegengehalten werden, weil die Belastung seines Grundstücks nach
dem Streckenausbau die Schwelle der grundrechtlichen Unzumutbarkeit
übersteigt. Die Vorbelastung und die durch die wesentliche Ände-
rung eines Schienenweges entstehende zusätzliche Geräuschbelastung
dürfen zu keiner Gesamtbelastung führen, die im Ergebnis einen nicht
rechtfertigungsfähigen Eingriff in Leben, Gesundheit oder Eigentum
auslösen. In solchen Fällen ist eine Schutzminderung, die durch die
Berücksichtigung einer Vorbelastung bewirkt würde, mit
Verfassungsrecht nicht vereinbar (Rn. 41)
Der ErgänzungsPFB des EBA vom 21. Juni 2016 ist dementsprechend
aufzuheben, soweit darin der Übernahmeantrag abgelehnt wird. Die
Beklagte hat den Beschluss stattdessen um die Übernahmeverpflichtung
der Beigeladenen gegen Entschädigung des Klägers zu 1 zu ergänzen.
Die Höhe der Entschädigung ist nach dem Verkehrswert des Grundstücks
zum Stichtag der öffentlichen Bekanntmachung der Auslegung des
Planentwurfs zu bestimmen.

2. Zur Anwendung des Schienenbonus

"Weder die Gesetzesmaterialien zu § 43 Abs. 1 BImSchG n.F. noch der
Stand der Lärmwirkungsforschung geben etwas dafür her, dass der
Gesetzgeber mit dem Schienenbonus seinen normativen
Ermessensspielraum überschritten hätte und die Regelung daher aus
sich heraus und von Anfang an unwirksam ist. " (Rn. 50)

"Der Gesetzgeber wollte mit der Abschaffung des Schienenbonus keine
verfassungsrechtlich unhaltbaren Zustände beseitigen. Vielmehr hielt
er die ursprüngliche Annahme, Schienenlärm werde weniger belastend
wahrgenommen als Straßenlärm, aufgrund der Entwicklung des
Schienenverkehrs, insbesondere angesichts der hohen Zuwächse beim
Schienengüterverkehr für weder sachgerecht noch zeitgemäß." (Rn. 51)

"Es ist auch nicht ersichtlich, dass es aus Gründen des
Verfassungsrechts geboten war, den Schienenbonus abzuschaffen...
Dies lässt sich weder aus den bei Erlass des Elften Änderungsgesetzes
vorliegenden Erkenntnissen ableiten noch aus der von den Klägern
vorgelegten Literaturauswertung "Gesundheitliche Auswirkungen von
Bahnlärm - Aktueller Stand in der wissenschaftlichen Literatur"
(Dezember 2014), die sich zum Schienenbonus nicht ausdrücklich
verhält. Den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, der schon
der politischen Vereinbarung, den Schienenbonus abzuschaffen (vgl.
Koalitionsvertrag für die 17. Wahlperiode vom 26. Oktober
2009, S. 40), zugrunde lag, fasst eine vom Umweltbundesamt in Auftrag
gegebene Literaturstudie aus November 2009 zusammen
(Forschungsbericht "Lärmbonus bei der Bahn? Ist die Besserstellung
der Bahn im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern noch
gerechtfertigt?" [ANMERKUNG: MITAUTOR MÖHLER!]) . Darin wird aus
wissenschaftlicher Sicht keineswegs die Abschaffung des Schienenbonus
gefordert; vielmehr werden die ausgewerteten Untersuchungsergebnisse
dahin gedeutet, "dass aufgrund der inzwischen eingetretenen
Veränderungen in der Verkehrszusammensetzung und im Freizeitverhalten
der Bevölkerung eine Differenzierung in der Anwendung des
Schienenbonus vorgenommen werden müsse" (Rn. 53)

"Abgesehen davon lässt sich aus systematischen Erwägungen
ausschließen, dass die Anwendung des Schienenbonus hier zu
verfassungswidrigen Ergebnissen führt. Werden die
Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV überschritten,
ist durch geeignete aktive oder passive Schutzmaßnahmen
sicherzustellen, dass die vorhabenbedingte Immissionsbelastung
auf die einschlägigen Werte der 16. BImSchV begrenzt wird. In
allgemeinen Wohngebieten, in denen die Kläger zu 2 bis 11 wohnen,
bedeutet dies etwa, dass eine Belastung von 59 dB(A)/tags und 49
dB(A)/nachts einzuhalten ist.
Selbst wenn der Schienenbonus von 5 dB(A) herausgerechnet würde,
überschritte die verbleibende Belastung nicht die grundrechtliche
Zumutbarkeitsschwelle, die für Wohngebiete aus Gründen des
vorsorgenden Gesundheitsschutzes an Werten von etwa 70 dB(A) tags und
60 dB(A) nachts festzumachen ist."(Rn. 54)

3. Zu Kosten/Nutzen-Analysen nach §41 Abs. 2 BImschG:

"Es ist hier nicht zu beanstanden, dass bei der Kosten-Nutzen-Analyse
auf der Kostenseite nicht die Nettokosten des aktiven Schallschutzes,
sondern die Bruttokosten (nur) für die Errichtung der Lärmschutzwände
eingestellt worden sind. Zwar spiegeln die Nettokosten (Gesamtkosten
für aktiven Schallschutz [Errichtungs- plus Unterhaltungskosten der
Wände, vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 1999 - 11 A 50.97...]
abzüglich der Kosten für den ersatzweise zu leistenden passiven
Schallschutz einschließlich etwaiger Außenbereichsentschädigungen)
denjenigen finanziellen Aufwand wider, der spezifisch - also über die
ansonsten ohnehin anfallenden Kosten hinaus - durch die Gewährung
aktiven Schallschutzes verursacht ist.

Der Senat hält es aber für angängig, der grundsätzlich ausreichenden
überschlägigen Kostenabschätzung im Regelfall nur die Bruttokosten
für die Errichtung der Lärmschutzwände als Gesamtkosten zugrunde zu
legen, wie es der Verwaltungspraxis entspricht..." (Rn. 61)

Anm: Es folgen im Urteil ausführliche Berechnungen und Tabellen zu
den gelösten Schutzfällen und den Kosten pro Schutzfall.

4. Zu Baulärm

"Für Tage oder Nächte, in denen der nach der AVV Baulärm berechnete
Immissionsrichtwert (außen) voraussichtlich 70 dB(A) tags oder 60
dB(A) nachts überschreiten wird, können die Kläger ersatzweise einen
Hotelaufenthalt auf Kosten der Beigeladenen in Anspruch nehmen
(Protokollerklärung Anlage 3 zum Protokoll vom 28. Juni 2016 i.V.m.
Nr. 2.3 der Anlage 1 zum Protokoll des Erörterungstermins vom 9.
Februar 2016). Auch wenn dieses Wahlrecht, das die Beklagte in ihren
Änderungsplanfeststellungsbeschlüssen den Anträgen der Beigeladenen
folgend aufgenommen hat, für die Nachtzeit (20 bis 7 Uhr) wegen des
grundsätzlichen Verbots von Bauarbeiten nach 20 bzw. 18 Uhr
regelmäßig ins Leere geht, behält es für die Tageszeit doch einen
Sinn."

"Die von den Klägern verlangte weitergehende Konkretisierung des
planfestgestellten Schutzkonzepts gegen Baulärm überspannt die
Anforderungen an einen Planfeststellungsbeschluss. Auch wenn die
Bauausführung - wie hier - mit erheblichen Beeinträchtigungen
einhergeht, darf die Planfeststellungsbehörde sich in der Regel
darauf beschränken, den verbindlichen Rahmen des Zumutbaren
festzulegen und die Instrumente zu bestimmen, mit denen die
Rechte der Betroffenen zu wahren sind. Die Umsetzung eines solchen
zur Sicherstellung des gebotenen Schutzes tauglichen Konzepts kann
der Bauausführung überlassen bleiben, wenn hierfür, wie vorliegend,
anerkannte technische Regelwerke zur Verfügung stehen." (Rn. 102)

"Die Beklagte war berechtigt, die Errichtung mobiler Lärmschutzwände
in anderen Bereichen als den Bahnübergangslücken abzulehnen. Die
gutachterliche Schätzung belegt Kosten für mobile Lärmschutzwände in
der Größenordnung von 500 000 EUR je Ortschaft und Monat. Die Kosten
von voraussichtlichen 10 000 EUR je Schutzfall liegen teilweise sogar
oberhalb der Kosten für den Schallschutz durch die dauerhaften
Lärmschutzwände....Zudem ließen mobile Lärmschutzwände Schutzfälle
ungelöst. Ihre Minderungswirkung ist mit 3 bis 5 dB(A) gering.." (Rn.
104)

übermittelt durch
Mit freundlichen Grüssen
Bürgergruppe für Sicherheit und Lärmschutz an der Bahn
Ludwig Steininger
Riedlingerstr. 3
D-85614 Kirchseeon bei München
Tel. +49-8091-4753
eMail .
Antworten (0)


There are no replies made for this post yet.
However, you are not allowed to reply to this post.
Zum Seitenanfang